Sunday, March 1, 2009

Radfahren in San Francisco 2: Critical Mass

Wenn sich am letzten Freitag im Monat gegen 18 Uhr auf der Justin Herman Plaza hunderte von Radfahrerinnen und Radfahrern versammeln, erzeugt dies fragende Gesichter bei den Touristen und erhöhte Adrenalinspiegel bei den Autofahrern. Dann findet nämlich immer Critical Mass oder kurz "The Mass" statt. Radfahrerinnen und Radfahrer jeder Altersklasse, manche verkleidet, manche im Anzug, die meisten ganz normal, versammeln sich, um gemeinsam durch die Strassen von San Francisco zu fahren. Irgendwann nach 18h setzt sich dann der Radtross langsam in Bewegung, zuerst meistens ein paar Blocks die Market Street hinauf und dann weiter wohin die ersten paar Radfahrer sich spontan entschliessen. Feststehende Route oder Organisation gibt es keine. Ich schätze die Teilnehmerzahl auf weit über 1000 und so werden wir jeweils zu einer "kritischen Menge", welche den Verkehr zum Stillstand bringt und sämtliche Verkehrssignale ignoriert. Bis der mehrere hundert Meter lange Fahrrad-Wurm vorbeigezogen ist, geht gar nichts mehr für die Autofahrer. Unter Klingeln, Johlen und Musik (einige Teilnehmer ziehen Stereoanlagen inklusive Generator und Boxen auf Radfahranhängern mit) fahren wir an den hupenden Autos vorbei. Einzelne Radfahrer stellen sich mit in die Luft erhobenem Fahrrad vor die Autofahrer hin, um den Radfahrern ein sicheres Durchkommen zu ermöglichen. Passanten bleiben stehen, zücken die Fotoapparate, winken und rufen uns zu. Anwohner lehnen sich aus den Fenstern um uns anzuspornen. Sogar manche Autofahrer machen zustimmende Gesten! Damit das Ganze nicht vollkommen ausser Rand und Band gerät, fahren Motorradpolizisten mit. Sie weisen einerseits Autofahrer, die auszurasten drohen, in ihre Schranken (Polizist: "Beruhigen Sie sich doch bitte!" Autofahrer: "Ich will aber **** hier weiterfahren!" Polizist: "Sie beruhigen sich jetzt. Sofort." .... Ruhe) und treiben andererseits auch die hintersten Radfahrer etwas an, so dass sich der Tross nicht allzu sehr verzettelt. Die Motorradpolizisten sind jedenfalls super cool mit ihren Harley Davidson, dunklen Uniformen und schwarzen Lederstiefeln. Ich habe den Eindruck, dass Critical Mass denen auch gefällt und sie ihren Dienst nicht ungern machen. Zumindest sieht man immer wieder die gleichen Polizisten und die Stimmung ist definitv pro-Velo :-). Höhepunkte jedes Critical Mass in San Francisco sind Fahrten durch einen der Tunnel, die normalerweise für die Radfahrer gesperrt sind oder sogenannte Bike lifts, wo möglichst viele Leute ihre Velos in einer Art Siegespose in die Luft heben (siehe Foto oben).
Das erste Critical Mass fand am 25. September 1992 mit ein paar Dutzend Teilnehmern in San Francisco statt und hatte dann Monat für Monat mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die ursprüngliche Idee war zu zeigen, wie velo-unfreundlich die Stadt damals war. Critical Mass war und ist ein spontanes Treffen von Velofahrerinnen und Velofahrern zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ohne definierte Organisation oder Botschaft. Es wird aber natürlich ganz klar als Protestaktion gegen die Dominanz der Autos auf den Strassen wahrgenommen und es gibt schon mal (meist nur verbale) Auseinandersetzungen zwischen blockierten Autofahrern und provozierenden Radfahrern. Wenn ein Auto ungeschickterweise in die Masse reingerät hilft eigentlich nur noch Motor abstellen und warten - sonst ist ausgebuht werden das Harmloseste was passiert... Gemäss einem Zeitungsartikel im San Francisco Chronicle zum 10-jährigen Jubiläum hat Critical Mass durchaus einiges bewegt: die Stadtverwaltung hat z.B. Fahrradstreifen und andere velo-freundliche Massnahmen bewilligt und gebaut und die Radfahrer haben offenbar allgemein als Verkehrsteilnehmer an Akzeptanz gewonnen. Mittlerweile gibt es Critical Mass Veranstaltungen auf der ganzen Welt, das grösste fand 2008 in Budapest statt (80'000 Teilnehmerinnen gemäss Wikipedia).
Besammlung auf der Justin Herman Plaza
Motorradpolizist

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